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State Secrets: Inside The Making Of The Electric State


1 Family Secrets: Chris Pratt & Millie Bobby Brown Share Stories From Set 22:08
22:08
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Host Francesca Amiker sits down with directors Joe and Anthony Russo, producer Angela Russo-Otstot, stars Millie Bobby Brown and Chris Pratt, and more to uncover how family was the key to building the emotional core of The Electric State . From the Russos’ own experiences growing up in a large Italian family to the film’s central relationship between Michelle and her robot brother Kid Cosmo, family relationships both on and off of the set were the key to bringing The Electric State to life. Listen to more from Netflix Podcasts . State Secrets: Inside the Making of The Electric State is produced by Netflix and Treefort Media.…
Michael Töteberg und Alexandra Vasa – Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie
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Worüber kann man noch schreiben, was? Man macht die Augen auf und erschricktnotiert der Kölner Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann im Mai 1971. Er hat zu diesem Zeitpunkt gerade einen Karriereabsturz hinter sich und steckt in der Schreibkrise fest. Dabei hatte doch alles so verheißungsvoll angefangen – für ihn, den 1940 in Vechta geborenen Provinzflüchtling.Quelle: Rolf Dieter Brinkmann
Ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD
1962 von Dieter Wellershoff entdeckt, baute man Brinkmann beim Kiepenheuer & Witsch Verlag zunächst erfolgreich zur jungen, wilden Literaturstimme auf. Seine ersten zwei Erzählbände fanden sofort lobende Erwähnung bei Starkritikern wie Marcel Reich-Ranicki. Und auch sein Debütroman „Keiner weiß mehr“ über die Ehekrise eines jungen Paares erregte 1968 Aufsehen und wurde ein Bestseller. Vor allem deshalb, weil Brinkmann darin sehr obszön-direkt über Sex geschrieben hatte. Damals ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD:Es war, vom Verlag geschickt lanciert, ein Erfolg, dessen Schattenseite ein Image war, das der Autor so schnell nicht wieder loswurde.Und in der Tat: Spätestens, als Brinkmann dann nur ein Jahr später, 1969, zusammen mit seinem Freund Ralf Rainer Rygulla die Anthologie ACID herausgab, war er auf die Rolle des Angry Young Man gebucht. Handelte es sich bei ACID doch um einen Sammelband mit Texten aus der anglo-amerikanischen Subkultur, in denen es ebenfalls schockierend vulgär um Sex und Drogen ging. Pünktlich zur Hippie-Revolte wurde ACID zum Kultbuch – und Brinkmann zum Vorzeige-Rebellen einer neu ausgerufenen, deutschen Pop-Literatur. Ein Image, das ihm jedoch schon bald auf die Nerven ging. Entsprechend gereizt reagierte er bei Auftritten – und steigerte sich immer mehr in die Rolle des beleidigenden Wüterichs hinein. Bis er im November 1968 den Kritikern Rudolf Hartung und Reich-Ranicki bei einer Diskussion in Berlin sogar androhte, sie mit einem Maschinengewehr niederschießen zu wollen.Quelle: Michael Töteberg und Alexandra Vasa – Ich gehe in ein anderes Blau
Gift und Galle
In seinem überschäumenden Zorn verlor Brinkmann irgendwann völlig die Fassung und den Überblick. Und schimpfte nicht nur böse gegen das Establishment an, sondern auch über jüngere Schreibkollegen, die Studenten-Bewegung – und sogar enge Freunde und Förderer wie seinen Verleger Reinhold Neven Dumont, der sich später erinnerte:„An guten Tagen verbreitete [Brinkmann] Hohn und Spott, an schlechten Gift und Galle.“Vasas und Tötebergs Biografie kann man nun als Versuch lesen, neben dem Wüterich Brinkmann wieder stärker das sensible und erstaunlich hellsichtige Genie sichtbar zu machen. Denn das war der große Alles-Beschimpfer aus Köln eben auch: Ein empfindsamer, hochbegabter und visionärer Autor, der auf der Suche nach neuen Erzählformen neugierig mit Foto-Collagen und Super-8-Filmen experimentierte, zugleich aber bereits vor der Manipulation durch die Massenmedien warnte.Quelle: Reinhold Neven Dumont
Vorläufer der Autofiktionsromane
Im Versuch, seinen Alltag radikal subjektiv und möglichst unverfälscht mitzuschreiben, wirken Brinkmanns spätere Collage-Bücher Erkundungen oder Rom, Blicke geradezu irrwitzig aktuell – und lesen sich wie Vorläufer der heute so angesagten Autofiktionsromane.Brinkmann weist in die Zukunft, dadurch, dass er zeigt, dass das Ich für immer gefährdet sein wird.Erkannte darum schon Peter Handke 1979. Unterm Strich hätte man Brinkmanns erster, akribisch recherchierter Biografie zwar etwas mehr Mut der Verfasser zum eigenen Urteil gewünscht, das sie leider oft lieber Weggefährten des Autors überlassen. Insgesamt aber ist ihnen ein wichtiges, hochspannendes Buch gelungen.Quelle: Peter Handke
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Worüber kann man noch schreiben, was? Man macht die Augen auf und erschricktnotiert der Kölner Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann im Mai 1971. Er hat zu diesem Zeitpunkt gerade einen Karriereabsturz hinter sich und steckt in der Schreibkrise fest. Dabei hatte doch alles so verheißungsvoll angefangen – für ihn, den 1940 in Vechta geborenen Provinzflüchtling.Quelle: Rolf Dieter Brinkmann
Ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD
1962 von Dieter Wellershoff entdeckt, baute man Brinkmann beim Kiepenheuer & Witsch Verlag zunächst erfolgreich zur jungen, wilden Literaturstimme auf. Seine ersten zwei Erzählbände fanden sofort lobende Erwähnung bei Starkritikern wie Marcel Reich-Ranicki. Und auch sein Debütroman „Keiner weiß mehr“ über die Ehekrise eines jungen Paares erregte 1968 Aufsehen und wurde ein Bestseller. Vor allem deshalb, weil Brinkmann darin sehr obszön-direkt über Sex geschrieben hatte. Damals ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD:Es war, vom Verlag geschickt lanciert, ein Erfolg, dessen Schattenseite ein Image war, das der Autor so schnell nicht wieder loswurde.Und in der Tat: Spätestens, als Brinkmann dann nur ein Jahr später, 1969, zusammen mit seinem Freund Ralf Rainer Rygulla die Anthologie ACID herausgab, war er auf die Rolle des Angry Young Man gebucht. Handelte es sich bei ACID doch um einen Sammelband mit Texten aus der anglo-amerikanischen Subkultur, in denen es ebenfalls schockierend vulgär um Sex und Drogen ging. Pünktlich zur Hippie-Revolte wurde ACID zum Kultbuch – und Brinkmann zum Vorzeige-Rebellen einer neu ausgerufenen, deutschen Pop-Literatur. Ein Image, das ihm jedoch schon bald auf die Nerven ging. Entsprechend gereizt reagierte er bei Auftritten – und steigerte sich immer mehr in die Rolle des beleidigenden Wüterichs hinein. Bis er im November 1968 den Kritikern Rudolf Hartung und Reich-Ranicki bei einer Diskussion in Berlin sogar androhte, sie mit einem Maschinengewehr niederschießen zu wollen.Quelle: Michael Töteberg und Alexandra Vasa – Ich gehe in ein anderes Blau
Gift und Galle
In seinem überschäumenden Zorn verlor Brinkmann irgendwann völlig die Fassung und den Überblick. Und schimpfte nicht nur böse gegen das Establishment an, sondern auch über jüngere Schreibkollegen, die Studenten-Bewegung – und sogar enge Freunde und Förderer wie seinen Verleger Reinhold Neven Dumont, der sich später erinnerte:„An guten Tagen verbreitete [Brinkmann] Hohn und Spott, an schlechten Gift und Galle.“Vasas und Tötebergs Biografie kann man nun als Versuch lesen, neben dem Wüterich Brinkmann wieder stärker das sensible und erstaunlich hellsichtige Genie sichtbar zu machen. Denn das war der große Alles-Beschimpfer aus Köln eben auch: Ein empfindsamer, hochbegabter und visionärer Autor, der auf der Suche nach neuen Erzählformen neugierig mit Foto-Collagen und Super-8-Filmen experimentierte, zugleich aber bereits vor der Manipulation durch die Massenmedien warnte.Quelle: Reinhold Neven Dumont
Vorläufer der Autofiktionsromane
Im Versuch, seinen Alltag radikal subjektiv und möglichst unverfälscht mitzuschreiben, wirken Brinkmanns spätere Collage-Bücher Erkundungen oder Rom, Blicke geradezu irrwitzig aktuell – und lesen sich wie Vorläufer der heute so angesagten Autofiktionsromane.Brinkmann weist in die Zukunft, dadurch, dass er zeigt, dass das Ich für immer gefährdet sein wird.Erkannte darum schon Peter Handke 1979. Unterm Strich hätte man Brinkmanns erster, akribisch recherchierter Biografie zwar etwas mehr Mut der Verfasser zum eigenen Urteil gewünscht, das sie leider oft lieber Weggefährten des Autors überlassen. Insgesamt aber ist ihnen ein wichtiges, hochspannendes Buch gelungen.Quelle: Peter Handke
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1 Michael Töteberg und Alexandra Vasa – Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie 4:09
Worüber kann man noch schreiben, was? Man macht die Augen auf und erschrickt Quelle: Rolf Dieter Brinkmann notiert der Kölner Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann im Mai 1971. Er hat zu diesem Zeitpunkt gerade einen Karriereabsturz hinter sich und steckt in der Schreibkrise fest. Dabei hatte doch alles so verheißungsvoll angefangen – für ihn, den 1940 in Vechta geborenen Provinzflüchtling. Ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD 1962 von Dieter Wellershoff entdeckt, baute man Brinkmann beim Kiepenheuer & Witsch Verlag zunächst erfolgreich zur jungen, wilden Literaturstimme auf. Seine ersten zwei Erzählbände fanden sofort lobende Erwähnung bei Starkritikern wie Marcel Reich-Ranicki. Und auch sein Debütroman „Keiner weiß mehr“ über die Ehekrise eines jungen Paares erregte 1968 Aufsehen und wurde ein Bestseller. Vor allem deshalb, weil Brinkmann darin sehr obszön-direkt über Sex geschrieben hatte. Damals ein Tabubruch, in der verklemmten Nachkriegs-BRD: Es war, vom Verlag geschickt lanciert, ein Erfolg, dessen Schattenseite ein Image war, das der Autor so schnell nicht wieder loswurde. Quelle: Michael Töteberg und Alexandra Vasa – Ich gehe in ein anderes Blau Und in der Tat: Spätestens, als Brinkmann dann nur ein Jahr später, 1969, zusammen mit seinem Freund Ralf Rainer Rygulla die Anthologie ACID herausgab, war er auf die Rolle des Angry Young Man gebucht. Handelte es sich bei ACID doch um einen Sammelband mit Texten aus der anglo-amerikanischen Subkultur, in denen es ebenfalls schockierend vulgär um Sex und Drogen ging. Pünktlich zur Hippie-Revolte wurde ACID zum Kultbuch – und Brinkmann zum Vorzeige-Rebellen einer neu ausgerufenen, deutschen Pop-Literatur. Ein Image, das ihm jedoch schon bald auf die Nerven ging. Entsprechend gereizt reagierte er bei Auftritten – und steigerte sich immer mehr in die Rolle des beleidigenden Wüterichs hinein. Bis er im November 1968 den Kritikern Rudolf Hartung und Reich-Ranicki bei einer Diskussion in Berlin sogar androhte, sie mit einem Maschinengewehr niederschießen zu wollen. Gift und Galle In seinem überschäumenden Zorn verlor Brinkmann irgendwann völlig die Fassung und den Überblick. Und schimpfte nicht nur böse gegen das Establishment an, sondern auch über jüngere Schreibkollegen, die Studenten-Bewegung – und sogar enge Freunde und Förderer wie seinen Verleger Reinhold Neven Dumont, der sich später erinnerte: „An guten Tagen verbreitete [Brinkmann] Hohn und Spott, an schlechten Gift und Galle.“ Quelle: Reinhold Neven Dumont Vasas und Tötebergs Biografie kann man nun als Versuch lesen, neben dem Wüterich Brinkmann wieder stärker das sensible und erstaunlich hellsichtige Genie sichtbar zu machen. Denn das war der große Alles-Beschimpfer aus Köln eben auch: Ein empfindsamer, hochbegabter und visionärer Autor, der auf der Suche nach neuen Erzählformen neugierig mit Foto-Collagen und Super-8-Filmen experimentierte, zugleich aber bereits vor der Manipulation durch die Massenmedien warnte. Vorläufer der Autofiktionsromane Im Versuch, seinen Alltag radikal subjektiv und möglichst unverfälscht mitzuschreiben, wirken Brinkmanns spätere Collage-Bücher Erkundungen oder Rom, Blicke geradezu irrwitzig aktuell – und lesen sich wie Vorläufer der heute so angesagten Autofiktionsromane. Brinkmann weist in die Zukunft, dadurch, dass er zeigt, dass das Ich für immer gefährdet sein wird. Quelle: Peter Handke Erkannte darum schon Peter Handke 1979. Unterm Strich hätte man Brinkmanns erster, akribisch recherchierter Biografie zwar etwas mehr Mut der Verfasser zum eigenen Urteil gewünscht, das sie leider oft lieber Weggefährten des Autors überlassen. Insgesamt aber ist ihnen ein wichtiges, hochspannendes Buch gelungen.…

1 Düstere Dimensionen, Machtmenschen und zerstörerische Freundschaften: Neue Bücher u.a. von Christian Kracht, Ilija Trojanow und Sophie Hunger 54:57
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Über düstere Dimensionen, zerstörerische Freundschaften, ein zynischer Kunstbetrieb und eine unbehauste Gesellschaft.
Im Mittelpunkt steht über 100 Jahre alter Text, ein Großgedicht des bulgarischen Schriftstellers Stojan Michailowski, das wegen seiner komplizierten, vielsprachigen Konstruktion als unübersetzbar gilt. Absurd, brutal und sehr aktuell Ilija Trojanow hat das Großgedicht, das nach einem alten orientalischen Märchen klingt, auf seine eigene Weise nacherzählt. Ein in die Jahre gekommener Wesir klärt seinen Nachfolger in 15 Tagen und Nächten über die Grundzüge des Herrschens auf. Es ist eine menschenverachtende Handlungsanweisung, die zugleich sehr satirische Anklänge erkennen lässt. Obwohl 1897 entstanden, habe der Originaltext sehr aktuelle Bezüge, meint Ilija Trojanow: „es gibt eine Universalität, was die Mechanismen der Macht betrifft, die ganz und gar erstaunlich ist.“ Die Konzentration von Macht verhindern Seine Erzählung lässt der Autor durch bekannte Stimmen aus der Weltliteratur kommentieren. Der Bogen reicht von Aristoteles über Thomas Hobbes und Machiavelli bis Hannah Arendt. Zitate aus chinesischen, japanischen und indischen Werken widersprechen den autoritären Herrschaftsregeln. „Das Buch der Macht. Wie man sie erringt und (nie) wieder losslässt“ ist ein spannender, aufschlussreicher Dialog über die eine zentrale Frage, die schon Michailowski umgetrieben hat: Wie kann eine gute Politik aussehen, die den Menschen nützt, aber für den Machterhalt von Nachteil ist?…

1 Spiegel der literarischen Öffentlichkeit – 25 Jahre „Perlentaucher“, das digitale Buch- und Kulturmagazin 10:18
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Zu einer Zeit, als die heute großen Internetplayer wie Google & Co. noch nicht am Start waren, haben sich einige weitsichtige Kulturjournalisten zusammengetan, um im Netz eine übergreifende Feuilletonzusammenschau aufs Gleis zu setzen. Am 15. März 2000 nahm der „Perlentaucher“ seine Arbeit auf und hat seitdem rund 107.000 Rezensionen zu mehr als 65.000 Büchern verfasst. Ein gigantisches Archiv, das die literarische Diskussion und die intellektuelle Öffentlichkeit der vergangenen 25 Jahre abbilde, so Thierry Chervel, Mitbegründer und Geschäftsführer von „Perlentaucher“. Debatten abbilden und Gespräche inszenieren Die Kommentare und Diskussionen im deutschen Feuilleton abzubilden, gehört zum Kerngeschäft des digitalen Kultur- und Buchmagazins. Doch es geht um mehr – im besten Fall darum, selbst eine Debatte zu aktuellen Fragen anzustoßen. Thierry Chervel verweist auf die Diskussion um die Rolle des Islam in Europa nach der Ermordung des niederländischen Filmemachers van Gogh, die der Perlentaucher sogar auf internationaler Ebene initiieren konnte. Die Literaturkritik hat sich verändert Blogs, soziale Medien, Podcasts haben die Wahrnehmung von und den Umgang mit Literatur in den vergangenen Jahren stark beeinflusst. Eine Entwicklung, die auch an der klassischen Literaturkritik nicht vorbeigegangen ist. Kritisch bewertet Thierry Chervel in diesem Zusammenhang eine zunehmende „Nerdifizierung“ der Kritik, die sich auf sehr kleine Spezialgebiete aufteile.…
„Die Geschichte handelt von einer Freundschaft zwischen einer Erzählerin, einem Mädchen, und ihrem besten Freund Niemand. Das ist eine sehr symbiotische, fast zerstörerische Freundschaft. Sie wachsen an verschiedenen Orten auf. Aber da, wo sie eigentlich leben, ist nicht ihre unmittelbare Umgebung, sondern die Musik,“ beschreibt Sophie Hunger. Sie ist eine der spannendsten Musikerinnen der Gegenwart. Ihr erster Roman trägt den Titel „Walzer für Niemand“, wie ein gleichnamiges Lied von ihrem 2008 erschienenen Debütalbum „Monday's Ghost". Eine musikalische Sozialisation Im ständigen Wechsel zwischen Ländern, Sprachen, Menschen ist die Musik eine Konstante für die Erzählerin und Niemand. Der schmale Roman ist eine Coming-of-Age Erzählung und die Geschichte einer Freundschaft. Der Ausgangspunkt ist dort, wo alles beginnt: bei der Geburt. Die Erzählerin und Niemand begleiten wir beim Heranwachsen bis – so viel sei verraten - zu einem Todesfall. Dazwischen eine musikalische Sozialisation. Hunger hat eine spannende Erzählkonstruktion gewählt. Die Erzählerin adressiert Niemand, spricht zum besten Freund, gleichzeitig direkt zur Leserschaft. Niemand ist dabei nicht leicht zu fassen. „Mein Roman spielt eigentlich genau damit. Einerseits ist er plastisch – er hat Lieblingslieder, ein Lieblingsbuch, ein Lieblingsessen, er hat eine bestimmte Art von Schuhen, er hat einen bestimmten Gang, er hat ein bestimmtes Äußeres. Aber er ist eben auch ‚Niemand‘,“ lacht die Autorin. Musik trifft auf Volkskunde In „Walzer für Niemand“ stecken neben viel Musik, auch einige Strophen Volkskunde. In kurzen Zwischenkapiteln erzählt Niemand von einer anderen Welt – der, der Walser und Walserinnen: „Das waren so alemannische Bauern, die vor tausend Jahren aus dem Wallis, die Hochalpen besiedelt haben, und lustigerweise eben immer die jene Gegenden, die wirklich total unwirtlich und Lebens feindlich waren. Meine Familie mütterlicherseits die Familie Hunger ist eine Walser Familie. Man sieht das nur noch an den an den Nachnamen in der Schweiz und so, als soll schon als kleines Kind hat mich das fasziniert.“ Bilder, Musik und poetische Sprache Der Roman ist beinahe collagiert, sogar mit Zeichnungen bebildert. Durchgetaktet möchte man sagen. „Das ist etwas, was beim Schreiben entstand“, erzählt Hunger. „Zuerst hatte ich nur eine Figur, und ich wollte eigentlich eine Art Dynamik kreieren, also dass der Leser sich fragt ist das jetzt ein Beispiel einer Walserin?“ Sophie Hunger beweist ihr feines Gespür für Melodie, für Pausen, für Zwischentöne auch beim Schreiben. Die Dichte ihrer Songtexte findet sich auch in ihren Sätzen wieder – oft lakonisch, doch immer eindringlich. Und sie beweist eine feinsinnige Beobachtungsgabe: Die schrulligen und tragischen Nebenfiguren berühren mit ihren lebensnahen Geschichten. Lieblingslieder und eigene musikalische Ambitionen Neben Schweizer Volkskunde lehrt die Lektüre auch viel über Töne, Klang, Stimme, Popgeschichte, wenn die Erzählerin selbst mit dem Liederschreiben beginnt. Das erste von mir erfundene Lied hieß »Sister Gladys Glass«. Gladys nach Gladys Knight & the Pips. Ihre Single »Midnight Train to Georgia« war eines unserer All-Time-Lieblingslieder. Die Single hatte ein purpurnes Cover, auf dem ein lächelnder Lokomotivkopf frontal in den Betrachter hineinfährt. So klang auch Gladys, wenn sie sang; ich wollte auch so klingen, wenn ich sang. Quelle: Sophie Hunger – Walzer für Niemand Die eigene Musik der Erzählerin nimmt immer mehr Raum in ihrem Leben ein. Sie tritt auf, bestreite ihren Lebensunterhalt in einem Züricher Restaurant kellnernd. Niemand und sie entfernen sich zunehmend. Dann die Chance für den Karriere-Kick: eine Einladung einer Plattenfirma. Niemand und die Erzählerin machen sich auf zum Vorspiel, im Bataclan in Paris. Alben enden versöhnlich Die Fahrt begleitet eine verletzte Taube und – natürlich - Musik. „Ich tippte abermals, diesmal bis zum letzten Track. Alben schließen meist versöhnlich. Ähnlich plötzlicher Milde am Sterbebett oder dem »mit freundlichen Grüßen« am Schluss einer Kündigung. Am Ende möchte keiner allein sein, dachte ich.“ Quelle: Sophie Hunger – Walzer für Niemand Sophie Hungers Art, Geschichten zu erzählen, folgt dem Prinzip eines Albums: ein harmonischer Gesamtklang, in dem die einzelnen Stücke aufeinander aufbauen, dennoch für sich stehen. Eine zwanzig Jahre gereifte Idee wird zum Roman Anders als ein Album endet der Roman nicht versöhnlich. Das macht aber nichts. Denn das passt zu Hungers zum Teil schwerer, poetischer Sprache, bei der sich mancher Satz erst enträtseln lassen will. Ihr Sound ist melancholisch, ähnlich ihrer Musik. Vielleicht weil die Idee zum Buch schon lange in der Musikerin schlummerte? „Die Idee zu diesem Roman ist eigentlich sehr alt. Ich hatte das vor 20 Jahren, und dann kam aber die Musik dazwischen, und die Musik ist etwas, was in einer Unmittelbarkeit passiert. Das Schreiben aber erfordert viel Distanz oder zumindest so, wie ich es jetzt erlebt habe. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich musste 20 Jahre Leben, um die nötige Distanz zu dieser Idee zu haben, um Platz zu schaffen für die Worte. Und jetzt war es einfach reif.“…
Mit dem ersten Satz beginnt auch schon das virtuose Spiel des Romans: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich." Rätselhaft und provokativ wirkt die Formulierung, denn die Grausamkeiten, die in Christian Krachts neuem Prosawerk „Air“ beschrieben werden, geben durchaus Anlass, sich Sorgen zu machen. Aber welches Leben ist überhaupt gemeint und warum könnte die Wahrnehmung trügen? Über die vertraute und doch fremde Welt, die im ersten Erzählstrang geschildert wird, urteilt der allwissende Erzähler folgendermaßen: „Es war eine Zeit, in der viele Dinge schnell erworben und wieder vergessen wurden." Lifestyle-Exzentrik vor rauer Landschaftskulisse Das Verschwinden bzw. Bewahren der Erinnerungen wird noch eine wichtige Rolle spielen in dem Buch, das zunächst das Portrait einer klassischen Christian-Kracht-Figur liefert, die in passenden Adjektiv-Orgien schwelgt: Der feinsinnige, leicht verschrobene und stets an sich zweifelnde Schweizer Inneneinrichter Paul lebt zurückgezogen auf dem schottischen Orkney-Archipel, hat aber genug zu tun, um seinen distinguierten Lifestyle am Nordrand der europäischen Zivilisation zu finanzieren. Der erste Auftrag war ein sehr streng minimalistisches, gläsernes Cottage auf den Shetlandinseln gewesen, das er einrichten sollte. Er ließ alles steingrau streichen, Decken, Wände, Fußböden, Einbauschränke, einfach alles, und dann ließ er ein paar naturbelassene Felsen nebeneinander auf den frisch gestrichenen Fußboden des Wohnzimmers legen, so daß die Unterseite der Steine ganz leicht die frische graue Farbe reflektierte. Quelle: Christian Kracht – Air Pauls Vorliebe für monochrome Gestaltungsideen erregt die Aufmerksamkeit eines anderen Schöngeists namens Cohen, der nicht nur eine ambitionierte Design-Zeitschrift herausbringt, sondern auch seltsame Aufträge zu vergeben hat. Paul möge doch bitte ein riesiges Rechenzentrum in Norwegen, in dem die digitalen Erinnerungen der Menschheit gespeichert sind, farblich umgestalten: „Und Cohen sagte nun, Paul solle alles weiß malen, die ganze Halle. Die Rechner, die Wände, die Decke, den Fußboden. Vermutungen, Vorstellungen und Erinnerungen würden sich in so großen Mengen im Green Mountain Datenzentrum ballen, daß ein weißgestrichener Raum für Aufgeräumtheit sorgen würde, und dafür bräuchte man nicht irgendein Weiß, sondern das perfekte, das einmalige Weiß." Raumsprung in eine düstere Parallelwelt Paul fragt sich zwar, ob er „Cohens Marionette“ sei, doch er fliegt selbstverständlich nach Norwegen, um sich die Computerhalle anzuschauen. Während der neugierige Dekorateur durch die Anlage wandelt und sich von der „Gigantomie des Projekts“ berauschen lässt, ereignet sich im Weltall eine „außergewöhnliche Sonneneruption“ – mit der Folge, dass ein „schockwellenartiger Magnetsturm mit Lichtgeschwindigkeit Richtung Erde“ rast. Der große Energiewirbel markiert den entscheidenden Wendepunkt des Romans, der sich nun vom Genre, aber auch im Tonfall ändert. Denn Paul hat sich titelgerecht in Luft aufgelöst: „Fast achtzig Menschen suchten mehrere Stunden alles in der Halle nach ihm ab, aber er war nicht mehr da." Ganz verschwunden ist Paul trotzdem nicht, er lebt nurmehr in einer anderen Dimension, romantechnisch könnte man sagen: in der zweiten Erzählebene weiter, nämlich in einer blutigen Fantasy-Welt, die an die berühmten Streaming-Serie „Game of Thrones“ erinnert: Es gibt verschiedene Reiche, geheimnisvolle Eismenschen und eine Gemeinschaft, die in einer Steinstadt lebt. „Magische“ Erfindungen wie Brillengläser Eine Seuche zieht durchs Land, und als wäre der „Gelbe Tod“ nicht schon Übel genug, terrorisieren die Soldaten des Fürsten von Tviot die darbende Bevölkerung nicht nur im grünen Norden, sondern auch in südlichen Gefilden: „Er lässt die Menschen wegen der kleinsten Kleinigkeit in den Dornenturm sperren oder aufs Rad binden." In derart mittelalterliche Verhältnisse wird Paul katapultiert, und er bekommt auch gleich einen Pfeil in den Rücken geschossen. Zum Glück hat der Mann es nicht mit den Häschern des Herzogs zu tun, sondern mit dem freundlichen und schlauen Waisenkind Ildr, das den Verletzten umgehend versorgt. Nach erster Skepsis und kuriosen Gesprächen über „magische“ Erfindungen wie Brillengläser fliehen die beiden dann auch Richtung Steinstadt, in der die Menschen in kargen Behausungen am Meer eine Kollektivutopie leben: Wer allein schlafen wollte, galt als eigennütziger Sonderling und wurde sanft, aber mit Nachdruck davon überzeugt, daß die Kraft der Steinstadt einzig in der Gemeinschaft lag. Quelle: Christian Kracht – Air Rätselhaft, verspielt, magisch Christian Kracht entwickelt erstaunlich stimmungsvolle Szenen im Reich der sozialistischen Steinmenschen, und so stellt sich bei zunehmender Lektüre die Frage, worauf die Geschichte hinauslaufen mag, wie die Erzählwelten in der wahrlich luftigen Romankonstruktion verbunden sind. Handelt es sich um eine temporäre Zeitreise, um endlos verschlungene Träume oder um eine Abenteuergeschichte im digitalen Gedächtnis der Figuren, die gewissermaßen auf den Spuren ihrer kulturellen Erinnerung sind? Kracht, der mit einer Fülle von Details und kuriosen Einfällen beeindruckt, gibt keine abschließende Antwort. Allein die Kraft der literarischen Fiktion stellt eine Verbindung der Welten her, die sich in ihrer Gegensätzlichkeit erstaunlich ähnlich sind. So kann man viele Passagen, wenn man es denn will, ideologiekritisch gegenüber der Neigung des Menschen lesen, sich seiner Umgebung allzu schnell anzupassen. Der Schriftsteller beweist zumindest Humor, wenn er im altertümlichen Fantasy-Kosmos eine Pistole aus einem 3D-Drucker zum Einsatz bringt. Oder wenn Paul in der schönen Steinstadt ein „ganz intensives Unbehagen bei dem Gedanken an Gemüse“ entwickelt. Dinge, die aus der Erde wuchsen, schienen ihm mit einem Mal artifiziell, Blätter und Bäume wider die eigentliche Natur. Sich von etwas anderem als Seetang und Fisch zu ernähren und sich mit etwas anderem als Stein zu umgeben, erschien ihm als schlichtweg falsch. Quelle: Christian Kracht – Air Motive der romantischen Tradition Doch die Idylle ohne Grünzeug währt nicht lange. Wie bei brutalen Fantasy-Epen üblich, gibt es auch in „Air“ am Ende ein grausames Gemetzel. Der Fürst von Tviot will die Steinstadt endlich erobern und greift die friedfertige Gemeinschaft an, die sich allerdings geschickt zu verteidigen weiß. Da könnte man Parallelen zu gegenwärtigen Konflikten und Krisen ziehen und sich eingedenk des Romanbeginns fragen, inwiefern das Grauen der unwirklichen Anderswelt uns daran erinnert, wie unsere realen Sorgen einzuordnen sind. Immerhin führt der seuchenkranke Feldherr aus dem Norden auch deshalb Krieg, weil er vermutet, der gesuchte Paul sei im Besitz eines Heilmittels gegen den Gelben Tod. Aber im Grunde versperrt sich Krachts Prosa einer weltpolitischen, tagesaktuellen Interpretation. Der Autor spielt vielmehr mit Motiven der romantischen Tradition, die nach der für Literatur, Musik und bildender Kunst so stilprägenden Epoche heute vor allem in Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten weiterlebt. Dabei sind, wie auch Kracht erkannt hat, die Erzählgrenzen und Bewusstseinsebenen fließend: Es war überhaupt alles wie in Erinnerung oder wie im Film oder wie in einem Traum. Quelle: Christian Kracht – Air Besser als Netflix Die Themen der popkulturellen Neo-Romantik knüpfen unmittelbar an die historischen Vorläufer an. Damals wie heute geht es um: die Hinwendung zur Natur angesichts allgegenwärtiger Gewalt, Weltflucht und Rückzug in Fantasie- und Traumwelten, Faszination des Mittelalters und des Unheimlichen, das Streben nach dem Unendlichen und Unerreichbaren, die Sehnsucht nach vollkommener Liebe und die Schönheit der Dinge. An einer Stelle erklärt Paul, warum er nicht in der steinernen Utopie bleiben, sondern aufs Eismeer fahren möchte: „Sehen, was dahinter ist." Christan Kracht verklärt die romantischen Motive keineswegs. Bei ihm sind alle Figuren entweder tot oder beschädigt, die Schönheiten von Natur und Kultur verschwinden vom Planeten und sind bald nur als digitale Erinnerung im Datenspeicher abzurufen. Das treibt die Sinnsucher Paul und Cohen weiter an - selbst wenn oder gerade weil das Ziel unbekannt ist: „Wohin ging es nur. Wer waren sie." Ein literarisches Rätselvergnügen Mit diesen existentiellen Grundfragen hatte sich Christian Kracht auch schon in seinem Roman „1979“ beschäftigt, der in Zeiten der iranischen Revolution spielt. Überhaupt lassen sich in „Air“ nicht wenige Verweise aufs eigene Werk finden, über die sich die Fans des Autors gewiss freuen. Tatsächlich hat Kracht, nachdem er sich zuletzt am Genre der Autofiktion abgearbeitet hat, mit „Air“ einen Roman geschrieben, der nicht nur innerhalb der Science-Fiction-Fantasy-Matrix überzeugt, sondern der für einen literarisches Rätselvergnügen genügend Bedeutungsebenen und Subtexte auch jenseits der Genre-Konventionen bietet. Kracht spielt mit kulturellen Versatzstücken und Erinnerungen, bleibt seinem Stil aber dennoch treu: mit großer Geste, dabei möglichst lässig, ständig etwas Neues suchend, an die Grenzen des Erzählbaren zu gelangen, als wäre der Schriftsteller selbst einer wie Paul, der nach jeder Etappe weiterziehen muss. Das Ergebnis ist in diesem Fall verstörend gut. Warum „Netflix“ schauen, wenn man Christian Krachts „Air“ lesen kann.…
Jonathan Lethem eröffnet seinen Roman mit einer merkwürdigen Szene im Jahr 1978. Da sitzen zwei vierzehnjährige Jungs in einer Wohnung und zersägen 25-Cent-Münzen in vier Teile. Eine „völlig sinnlose Tätigkeit“, wie auch der Erzähler feststellt. Was natürlich nicht stimmt, denn noch am selben Tag wird sich zeigen, was es damit auf sich hat – die Leser erfahren das allerdings erst 300 Seiten später. Jonathan Lethems Roman hat eine ungewöhnliche Erzählstruktur. Er ist eine Collage aus Short Cuts, Erzählungen, Ereignissen, angesiedelt in den 1950er-Jahren bis in die Gegenwart hinein, kunstvoll arrangiert zu einem Wimmelbild von Brooklyn. Ein Querschnitt durch die Zeiten; die Bühne besteht aus nur wenigen Straßen, und trotzdem ist das Buch vielfältig, abwechslungsreich und gesellschaftsdiagnostisch. Wer aber ist dieser Erzähler überhaupt, der mal in der Wir-, mal in der Ich-Form aus der Dean Street in Brooklyn erzählt? Zunächst einmal jemand, der sich gleich zu Beginn selbst zu strikter Sachlichkeit ermahnt: Aufwachsen mit täglicher Kriminalität Ein Mittel gegen Lyrismen. Halten wir das Licht, besonders das honigfarbene Licht, von unseren Augen fern. Nur die Fakten, Mann – keine malerischen Effekte. Wir sind hier, um Verbrechen aufzulisten. Die Stadt ist ein Netz von schematischen Darstellungen. Versuchen wir, ein paar Nadeln in die Karte zu stecken. Quelle: Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn Dieses Vorhaben scheitert – glücklicherweise. Der Titel „Der Fall Brooklyn“ greift ganz bewusst auf juristisches Vokabular zurück. Lethem zeigt, wie Jugendliche in Brooklyn in den 1970er-Jahren, die er selbst dort erlebt hat, in einem Umfeld selbstverständlicher Kriminalität aufwachsen. Überfälle, Diebstähle, Drohungen und Machtkämpfe unter rivalisierenden Gangs sind der Normalfall. Lethem kennt die Sprüche, die Gesten, das Distinktionsgehabe bis ins kleinste Detail. Und er erzählt davon in einem swingenden, mitreißenden Tonfall, ohne den Ernst der Lage zu verharmlosen. Für die Straßenkriminalität und die Raubüberfälle unter den Jugendlichen wählt Lethem das Bild des Tanzes: Ein streng choreographierter Ablauf von Blicken, Bewegungen und Dialogen, von dem abzuweichen beinahe ein Vergehen ist und den nur die Jugendlichen untereinander verstehen: Die Geschichte vom Pizzadieb Die Eltern werden es nie wirklich kapieren. Was draußen vor sich geht. Wie sich der Tanz wirklich anfühlt. Die Worte, die gesprochen werden, und das, was gemeint ist, die Bedeutung, die hinter den Worten der Straße lauert. Quelle: Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn Und weil das so ist, gilt für jeden Einzelnen da draußen auf der Straße: „Schütz dich selbst. Niemand anderes tut es für dich. Entwickle Methoden." Staat, Polizei, Hausbesitzer oder Behörden sind hier keine Autoritäten. Im Gegenteil: Sie sind Player im großen Getriebe, das Lethem in seinen Beschreibungen offenlegt. Auch die Mafia mischt natürlich kräftig mit. Und in einem Sprung in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre wird beschrieben, welche Auswirkungen die restriktiven Polizeimaßnahmen unter Bürgermeister Giuliani hatten. Dass es trotz aller Härten auch zu kuriosen Situationen kommt, versteht sich: Da ist beispielsweise der Kunde eines Optikers, der regelmäßig einen dunklen Fleck auf seiner Brille moniert. Da sind Berichte von missglückten Überfällen, allen voran der kuriose Fall, in dem ein Pizzadieb scheitert, weil sein Opfer das Stück einfach schnell aufisst, woraufhin der fassungslose Täter empört protestiert, dass das so nicht gehe. Da ist aber auch die Geschichte der beginnenden Gentrifizierung des Stadtteils in Person eines angeblichen Millionärs, der eines der alten Häuser kauft, aufwendig renoviert und dort einzieht. Ein Millionär zieht ein Der Sohn dieses Millionärs wird alsbald eine Lektion in Sachen Ladendiebstahl erhalten. Er lernt, dass wenn ein weißer und ein schwarzer Junge gemeinsam ein Geschäft betreten, der Weiße ungehindert heraustragen kann, was er möchte, weil es der Schwarze ist, der gefilzt wird. Es ist aber auch jener vermeintliche Millionärssohn, der am Ende zu einem der beiden wirklich erschreckenden Kriminalfälle beitragen wird, die der Erzähler recherchiert hat. Der Erzähler wiederum, der über rund 400 Seiten als alles sehende, alles wissende und alles kontextualisierende Instanz aufgetreten ist, erweist sich schließlich als eines der erwachsen gewordenen Kinder aus der Dean Street: Es gab die, die abgehauen sind, und die, die geblieben sind; ich war einer von denen, die geblieben sind. Mehr will ich nicht verraten. Ich will lieber nicht deutlicher werden. Sagen wir einfach, ich bin für immer unter ihnen. Schwarzen, Braunen, Weißen, Jungen, Mädchen. Den Erinnerern und den Vergessern. Ich gehöre zu ihnen. Ich liebe sie zu sehr, um mehr sagen zu wollen. Quelle: Jonathan Lethem – Der Fall Brooklyn Eine Liebeserklärung an die Stadt. Manchmal nostalgisch, nie verklärend – und exzellent geschrieben: „Der Fall Brooklyn“ zeigt Jonathan Lethem endlich wieder in Bestform. Ein Stadtteil, der immer im Schatten des glamourösen Manhattan lag, wird zur Bühne für einen Reigen aus Träumen, Ängsten und sozialen Verwerfungen. Und was es mit den zersägten Münzen der beiden Vierzehnjährigen auf sich hat, wird hier selbstverständlich nicht verraten.…
Die Europäische Union hat keine Telefonnummer, habe angeblich einmal Henry Kissinger gesagt und damit auf die fragwürdige Konstruktion der EU verwiesen, in der es keine klaren Verantwortlichkeiten gibt. Peter Sloterdijks Betrachtungen über Europa beginnen mit dem Befund, dass Europa als politisches und kulturelles Konstrukt von allerlei ungeklärten Identitätsfragen und Selbstzweifeln bestimmt wird. Der Begriff „Kontinent ohne Eigenschaften“, mit dem der Philosoph sein Buch betitelt hat, ist daher gut gewählt. Sloterdijks Diagnose der europäischen Situation ist ebenso scharfsinnig wie polemisch formuliert: Europa habe sich in „okzidentale Selbstverneinung“ zurückgezogen und sei von „Dekadenzfurcht“ bestimmt. Der Diskurs der Europäer sei von Nekrologen geprägt, es herrsche eine Stimmung des „Deklinismus“, der Altersschwäche, der Ermattung, des Fatalismus, des Rückzugs ins Private und der schlechten Laune. Europa nimmt Urlaub von der eigenen Geschichte Was der europäische Mensch … an erster Stelle für sich fordert, ist Urlaub von allem, was einmal eigene große Geschichte war. Quelle: Peter Sloterdijk – Der Kontinent ohne Eigenschaften Die Selbstbescheidung eines postheroischen Europas nach dem Abschied von den großen Utopien ist nach Sloterdijks Ansicht problematisch, weil seine Schwäche von anderen ausgenutzt werden kann. Ein postimperiales Europa, das seine „phallische Strahlkraft“ verloren hat, ermutigt diejenigen Mächte, die es sei´s wirtschaftlich, sei´s militärisch herausfordern wollen. Sloterdijks Essay ist auf dem Hintergrund des aktuellen russischen Krieges gegen die Ukraine geschrieben: Für die aktuelle Situation findet er im Rückbezug auf Homers Odyssee die ebenso schlagende, wie elegante Formulierung: Während die mittleren Europäer zwischen Lissabon und Stettin sich zunehmend der Verniemandung überlassen, bilden ihre Feinde von Peking bis Ankara eine Polyphemische Internationale. Quelle: Peter Sloterdijk – Der Kontinent ohne Eigenschaften Europa als Kontinent der Freiheit Gegen die Bedrohung durch die Autokratien, die Europas postimperiale Schwäche ausnützen möchte, um eine neue Weltordnung zu errichten, versucht Sloterdijk das Selbstbewusstsein der Europäer zu stärken, indem er ihnen ihre ureigene Geschichte in Erinnerung ruft. Den europäischen Geist beschreibt er gegenüber dem cäsaristisch geprägten Osten als gekennzeichnet durch Bildungseifer und die Liebe zum Neuen, die die wissenschaftliche Modernisierung ermöglichte. Eine Folge davon war auch die Emanzipation des einzelnen von geschlossenen religiösen Systemen. Sloterdijk kommt zu der Schlussfolgerung: Man könnte das freie Europa als eine Union von gelassenen Apostaten bezeichnen. Quelle: Peter Sloterdijk – Der Kontinent ohne Eigenschaften Andere durchaus treffende Definitionen Europas findet Sloterdijk, indem er dessen revolutionäre Geschichte Revue passieren lässt. Deren Wirkung sei die „Tiefenaufhebung der Sklaverei“, d.h. eine stolze Kultur individueller Freiheit gewesen. Dagegen sei das von „Angst, Gier und Rachsucht“ geleitete Russland ins „Stadium der vorreformatorischen Unterwerfung zurückgekehrt.“ Zutreffend sei aber nicht Oswald Spenglers Szenario vom „Untergang des Abendlandes“. Die Europäer seien vielmehr stark, weil sie auf eine lange Kultur der Selbstbefragung und des Sich-selbst-Rechenschaft-Ablegens zurückgreifen und sich ihre eigenen „Verirrungen“ gestehen könnten. Der homo occidentalis sei als das Lebewesen geprägt, dem die Fähigkeit zur ‚Einkehr‘ … als erstes Merkmal seiner Emanzipation von der Banalität des Äußeren zukommt. Quelle: Peter Sloterdijk – Der Kontinent ohne Eigenschaften Kein Grund für Dekadenzpessimismus Das heißt auch, dass Europa die von außen kommende Kritik an seinem expansionistisch-kolonialistischen, eurozentrischen Geist aufgenommen und daraus gelernt hat. Für Dekadenz-Pessimismus besteht demnach für Sloterdijk kein Grund. Das Fazit seines ebenso elegant geschriebenen wie geistig weit ausgreifenden Essays lautet, dass sich Europa, wenn es sich auf seine freiheitliche Geschichte besinnt, auch gegenüber der äußeren Herausforderung durch die neoimperialistischen Autokratien und ihre autokratischen Handlanger im Innern wird behaupten können.…
Der Protagonist von Kurt Prödels Debütroman heißt eigentlich Thomas. Doch seit ein Wachstumsschub dem 15-Jährigen knackende Gelenke beschert hat, verspottet ihn die ganze Klasse nur noch als „Klapper“. Grund genug für den Computerfreak, seine Freizeit konsequent in einer pixeligen Parallelwelt zu verbringen; Freundschaften kennt Klapper nur vom Hörensagen. Gemeinsame Leidenschaft: Ballerspiele Sein Status als Außenseiter und Mobbingopfer ändert sich erst, als zu Beginn des neuen Schuljahres ein etwas merkwürdiges Mädchen dazukommt: eine burschikose Sitzenbleiberin, die sich „Bär“ nennt – und sich ausgerechnet neben Klapper setzt. Der weiß erst gar nicht, wie ihm geschieht; voller Ängste und Komplexe flüchtet er sich in pseudocooles Schweigen. Das Eis zwischen ihm und Bär bricht erst, als sich herausstellt, dass die beiden eine Leidenschaft teilen, Ballerspiele. Was zockst du eigentlich?“ Klapper zuckte. Die Frage war viel zu intim. „Ähhhh.“ „Komm schon, jetzt tu nicht so. Man sieht doch aus 100 Kilometern, dass du ein Gamer bist.“ „Warum denkst du das?“ „Schlaksig, hängende Arme, krummer Nacken. Klassischer Gamerneck. Das kommt nicht von selbst, das erarbeitet man sich, indem man den ganzen Tag vorm Bildschirm hängt.“ Ihre Analyse war treffend und brutal. Quelle: Kurt Prödel – Klapper Vorzeitiges Ende einer Freundschaft Nicht lange, und beide basteln an Bärs Rechner gemeinsam an einer Karte ihrer Schule – als Vorlage für eine digitale Spielwiese für Counter-Strike, dem berüchtigten Ego-Shooter. Was 2011, auf dem Höhepunkt der Debatte um Killerspiele und jugendliche Amokläufer, nicht gerade die brillanteste Idee ist, wie sich noch zeigen wird. Doch es ist der Beginn einer Beziehung voller Möglichkeiten und Versprechen – der aber nur wenig Zeit vergönnt ist. Prödels traurigschöner Coming-of-Age-Roman spielt auf zwei Zeitebenen. Die eine, umfangreichere, erzählt die kurze, allzu kurze Geschichte dieser Freundschaft. Die andere spielt 14 Jahre später. Klapper ist erwachsen, zumindest äußerlich. Er führt ein tristes Single-Leben und ist immer noch ein Außenseiter, nur eben jetzt in einem Unternehmen, als IT-Experte – als wäre die Zeit für ihn innerlich stehengeblieben. An seine Freundschaft mit Bär erinnert er sich eher unfreiwillig. Aus einer Laune heraus loggt er sich in seinen alten Counter-Strike-Zugang ein, nur um dort über Bärs altes Profilbild zu stolpern. Klapper stockt und nimmt seine Finger von der Maus. Seine Augen schimmern, als wäre er ein Archäologe, der ein digitales Fossil entdeckt hat. Der Account heißt BÄR und hat einen kleinen Vermerk. BÄR, offline seit 4891 Tagen. Quelle: Kurt Prödel – Klapper Digitalisierte Wahrnehmung Kurt Prödels flott zu lesendes 250-Seiten-Debüt ist voller skurriler Szenen und Humor. Für letzteren sorgt nicht zuletzt die sozusagen digitalisierte Wahrnehmung seines Personals: Da sieht ein aufgeräumtes Wohnzimmer für Klapper aus wie „frisch formatiert“, und wenn er sich vor seiner provokationsfreudigen Mitschülerin wieder in sein Schneckenhaus zurückflüchtet, sieht Bär einen hängenbleibenden Ladebalken über seinem Kopf schweben. Der Roman des 34-jährigen Kölners überzeugt aber auch mit geschickt gesetzten Perspektivwechseln. Denn diese ermöglichen den Leserinnen und Lesern etwas, was den beiden jugendlichen Protagonisten verwehrt bleibt: zu sehen, was beim jeweils anderen tatsächlich los ist. Gerade Klapper, gefangen in einem klaustrophobischen Elternhaus, glaubt in Bärs hipper, chaotischer Großfamilie das ersehnte Gegenmodell gefunden zu haben. Dass die Meiers aus dem „Bonzenviertel“ auf ihre Weise genauso dysfunktional sind wie seine eigene Familie, dass Bär in der Rolle einer Ersatzmutter für ihre Geschwister heillos überfordert ist, bleibt ihm bis zuletzt verborgen. Und somit auch der Grund für Bärs häufige Stimmungsschwankungen. Mit „Klapper“ hat Kurt Prödel einen erfrischenden Coming-of-Age-Roman vorgelegt, der der Figur des nerdigen Zockers und Gamers ein sympathisches Denkmal setzt.…
Einmal, berichtet uns die Erzählerin im Vorwort des Buches, habe sie in der U-Bahn eine Panikattacke bekommen. Um sie auszuhalten, versuchte sie sich vollkommen auf alles zu konzentrieren, was um sie herum passierte, und ihr Blick blieb an einer Frau hängen, die ihr schon zuvor aufgefallen war. So konnte sie sich selbst in Sicherheit bringen vor ihrer Angst. Dieses Schlüsselerlebnis ist der Grundstein meiner nunmehr zehn Jahre anhaltenden Beobachtungsreise. Eine Art Therapie, die mich – außer unzähligen Tassen Kaffee – nichts kostet. Von West nach Ost (Berlin) habe ich mich durch sämtliche Cappuccinos probiert. Mehr habe ich in den letzten zehn Jahren gefühlt nicht gemacht. Sitzen, Nippen, Beobachten, Tippen. Quelle: Linda Rachel Sabiers – Kleine Momente in der großen Stadt Die Lust an der Beobachtung Linda Rahel Sabiers beginnt also, Szenen der Großstadt zu notieren. Sie will nicht garantieren, dass sich alles wirklich so zugetragen hat, aber es klingt danach. Sie will weder werten, noch urteilen. Sie will vielleicht noch am ehesten so etwas sein wie ein „stummer Spiegel“. „Tagebuch der Großstadt – ohne Schloss und Schlüssel“ nennt sie ihre Sammlung für sich selbst. Entstanden sind dabei kleine Geschichten, Anekdoten, Dialogsprengsel aus dem Alltag in der großen Stadt, hauptsächlich Berlin. Ein paar wenige Szenen spielen auch in Köln. Auffallend an Sabiers Miniaturen ist auch, dass kein Wort zu viel geschrieben ist. Was einen sofort einnimmt, sind die vielen unterschiedlichen Menschen und Lebensalter, die uns erzählt werden, vom kleinsten Kind, gerade der Sprache mächtig, bis zum alten Stadtbewohner, alle kommen vor. Und ich schicke es voraus: Das ist ein Buch (wenigstens) für alle Berliner Freunde und Berlin-Freunde, die Bücher an einem Örtchen liegen haben, wo sie manchmal auch nur ein bisschen alleine herumsitzen – und nicht Trübsal blasen wollen. Sie werden ihre Freude haben. Auf der Eingangstreppe des Gorki-Theaters sitzen ein Mann und eine Frau. Sie hält mit der einen Hand seine, in der anderen Hand ein Glas Rotwein. Er schluchzt, durch die offenen Flügeltüren hören wir den ersten Gong. „Ich sagte doch nur, dass du dir endlich mal deine Gefühle eingestehen sollst.“ „Mach ich doch.“ „Aber doch nicht jetzt.“ Quelle: Linda Rachel Sabiers – Kleine Momente in der großen Stadt Das existentielle Wehen im banalen Leben Das sind menschenkundige, freundliche und sehr genaue Beobachtungen, was sich auch in den kürzesten der etwa 200 Momente zeigt. Immer spürt man entweder die Freude an der Komik der Alltagssituation; die Freude an so etwas wie einem existentiellen Wehen im banalen Leben; die Freude, dem Auge zu folgen, dem Ohr. Und die Neugier auf Menschen. Oder genauer, das Interesse am Umgang der Menschen mit ihrem Leben, mit ihren Mitmenschen, mit der Welt. Schön daran ist, dass nicht gedeutet wird, nicht erklärt. Alles, was diese kleinen Geschichten erzählen, verstehen wir, weil wir sie lesen. Neben mir in der U-Bahn sitzen zwei Männer und unterhalten sich. „Warst du am Wochenende bei der Gaza-Solidaritätskundgebung?“ „Nee hab ich verpasst. Du?“ „Ja, aber es waren kaum Leute da. Und dieses eine Mädchen. Die bei der Merkel geweint hat. Die Durfte nichts sagen.(…) „Wer hat es verboten?“. „Bestimmt die Springer-Leute, ist doch alles in Judenhand. Die Polizei übrigens auch.“ „Sei leise. Nicht dass die uns hören!“ „Die Juden? Die sind doch reich.“ „Stimmt, ich hab noch nie einen Juden in der Bahn gesehen.“ Quelle: Linda Rachel Sabiers – Kleine Momente in der großen Stadt Wirklich lustig ist das nicht. Aber wenn Ressentiments gegen Minderheiten so ungeschützt und zweifelsfrei vorgetragen werden, freut man sich über die heimliche Zuhörerin, die sie möglichst laut weitererzählt!…
Manchmal wird der Riss, der durch eine Familie geht, an einer Wetterkarte deutlich: So erscheinen auf der Karte des russischen Wetterberichts, den Dmitrij Kapitelmans Mutter verfolgt, auch eingenommene ukrainische Orte: Für Russisch-Donezk etwa werden drei Grad und Schneeregen vorausgesagt. Während die Mutter regelmäßig das russische Propaganda-Fernsehen verfolgt und ebenso regelmäßig auf die Ukraine schimpft, denkt ihr Sohn an die Freunde und Bekannten in Kyjiw, die seit dem Beginn des Krieges um ihr Leben fürchten müssen. Denn einst hat die gesamte Familie in der ukrainischen Hauptstadt gelebt, bis sie in den 1990er Jahren nach Deutschland gezogen ist. Mit dem russischen Staat, so hält Kapitelman fest, verbindet die Mutter neben den Sendungen im Fernsehen nur die Sprache: Geboren wurde sie in Sibirien, doch mit drei Jahren brachte Großmutter ihr Töchterchen ins wärmere Moldawien – die kleine Lara vertrug die russische Kälte nicht. Ihr russischer Vater war da schon über alle Berge und ließ die beiden zurück. In Moldawien wuchs meine Mutter zur Frau heran. Und diese Frau beschloss, einmal volljährig, in das große Kyjiw zu gehen. Quelle: Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten Leben im Angesicht des russischen Angriffskriegs In seinem neuen Roman erzählt Dmitrij Kapitelman davon, wie das eigene Leben im Angesicht des russischen Angriffskriegs ins Wanken gerät und auch die alltäglichsten Dinge politisiert werden. Das betrifft vor allem die Sprache, denn Kapitelman spricht neben Deutsch vor allem Russisch. Während die Mutter in der Fernseh-Propaganda versinkt, versucht Kapitelman jeden Tag etwas russische Literatur zu lesen, um die Sprache auch in einem anderen Zusammenhang zu erleben. Gleichzeitig ringt er auch ganz praktisch mit der Sprache. Wenn er im Ladengeschäft seiner Eltern aushilft, das den Namen „Russische Spezialitäten“ trägt, wollen ihm die rechten Wörter nicht immer einfallen: Wobei nichts davon so sehr wehtut, wie wenn mir die russischen Wörter fehlen, um Mama und Papa mitzuteilen, was ich fühle. Und wenn die Wörter mal fehlen, dann nehmen diese fehlenden Wörter so unglaublich viel Platz in einem weg. Mein Kopf, meine Augen, mein Mund, meine Kehle, meine Brust, mein Herz – alles ist plötzlich voll mit fehlenden Wörtern. Als würden die fehlenden Wörter in einem anschwellen. Ich halte mich daher ständig bereit, so zu tun, als wäre alles, was ich auf Russisch sage, ein Witz gewesen. Quelle: Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten Zusammenbruch der Sowjetunion In dem Versuch, seine Eltern und das Auseinanderdriften der jeweiligen Ansichten zu verstehen, blickt Kapitelman zurück auf die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: Er hält die Freude über die neu erlangte Unabhängigkeit in Kyjiw ebenso fest wie den Alltag in Ostdeutschland. Im Roman zeigen sich die vergangenen Jahrzehnte dabei als eine Zeit fortwährender Veränderung, die in einer allgemeinen Verunsicherung und dem Erstarken der politischen Rechten münden. Alltag zwischen Normalität und Luftangriffen Im letzten Drittel folgt dann ein harter Schnitt in die Jetzt-Zeit: Kapitelman beschließt, selbst in die Ukraine zu fahren, und beschreibt den Alltag in Kyjiw zwischen Normalität und fortwährenden Luftangriffen. Mit der russischen Sprache fühlt er sich auch dort unwohl. Und auch die Frage eines Kindheitsfreundes, auf welcher Seite er stehe, bringt ihn ins Straucheln: Der Seite, die von der großen Gewalt bedroht ist, würde ich am liebsten sagen. Rostik von den Neo-Landtagen der neuen Nazis erzählen, und auch von den sogenannten Christdemokraten, die ihre größten Wahlhelfer sind. Von den gerissenen Wagenknechts, die stückchenweise russischen Autoritarismus importieren und sehr profitabel an die Deutschen weiterverkaufen. Quelle: Dmitrij Kapitelman – Russische Spezialitäten Auch in seinem neuen Roman spielt Dmitrij Kapitelman seine Stärken als Journalist und Autor aus: Er beobachtet, ordnet ein und erzählt einfach mitreißend. „Russische Spezialitäten“ überzeugt als kluger Blick auf die derzeitige Weltlage. Denn Dimitrij Kapitelman setzt vermeintlichen Gewissheiten die eigene Erfahrung und Empathie entgegen – und unserer mitunter trostlosen Gegenwart eine Menge Witz.…
Seit 1. Januar 2024 ist Astrid Böhmisch die Direktorin der Leipziger Buchmesse, und mit ihr wollen wir einen Ausblick wagen auf das Frühjahrstreffen der Buchbranche. In für die Buchbranche ökonomisch prekären Zeiten will Böhmisch die Leipziger Messe als bedeutendes Frühjahrsbranchentreffen erhalten und auch die politische Relevanz der Veranstaltung festigen. Unterstützung bekommt sie in diesem Jahr von einer königlichen Botschafterin für die Literatur. Im Gespräch gibt Astrid Böhmisch einen Ausblick auf das Programm. Eröffnung Leipziger Buchmesse am 26. März Am 26. März 2025 wird im Gewandhaus zu Leipzig die Leipziger Buchmesse eröffnet, traditionsgemäß mit der Verleihung des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung. Der geht in diesem Jahr an den belarussischen Schriftsteller Alhierd Bacharevič für seinen Roman „Europas Hunde“.…

1 Iris Radisch über Vigdis Hjorths „Wiederholung":„Literatur, Wunsch und Traum durchdringt sich auf vielen Ebenen" 10:25
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Norwegen ist in diesem Jahr der Ehrengast auf der Leipziger Buchmesse . Eine der wichtigsten norwegischen Schriftstellerinnen der Gegenwart ist die 1959 geborene Vigdis Hjorth. Schlachtfeld Familie Auch in Deutschland ist sie in den vergangenen Jahren durch ihre Romane „Die Wahrheiten meiner Mutter“ und „Ein falsches Wort“ bekannt geworden. Romane, in denen eine Familie und deren verschwiegene Ungeheuerlichkeiten im Mittelpunkt stehen. Nun gibt es ein neues, dieses Mal recht schmales Buch von Vigdis Hjorth. „Wiederholung“ heißt es, und wurde bereits mit dem bedeutendsten norwegischen Literaturpreis bedacht. Wir stellen ihn im Gespräch mit Iris Radisch, Literaturredakteurin der Wochenzeitung „Die Zeit“, vor.…

1 Emmanuel Carrère – Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick 10:38
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Philip K. Dick, geboren 1928 in Chicago, gestorben 1982 in Kalifornien, war einer der einflussreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Dick gilt bis heute als Visionär und Erfinder des Cyberpunk-Genres. Seine Erzählungen und Romane lieferten die Vorlage für Filme wie „Blade Runner“, „Total Recall“ und „Minority Report“. Emmanuel Carrère über Philip K. Dick Auch der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère ist seit vielen Jahren ein Fan von Philip K. Dicks Werken. Im Jahr 1993, lange, bevor er selbst berühmt wurde, hat Carrère ein Buch über Dick geschrieben, das nun, 32 Jahre später, erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Es trägt den Titel „Ich lebe und ihr seid tot. Die Parallelwelten des Philip K. Dick“. SWR-Literaturchef Frank Hertweck hat nicht nur Emmanuel Carrères Buch gelesen, sondern sich auch in das Dick-Universum hineingearbeitet.…
Lässt sich mit aktuellen Reizworten aus den Soundtracks öffentlicher Debatten ein Roman zimmern? Aus Zeitgeistdiskursen eine Gesellschaftsanalyse zusammenbauen? Die Londoner Autorin Natasha Brown hat es versucht. Und um zu betonen, dass es ihr um den ganz großen Überblick geht, hat sie ihrem Roman auch gleich noch einen Titel gegeben, der wie ein Zertifikat klingt. Er lautet „Von allgemeiner Gültigkeit". Eine moderne Parabel Auch die junge Journalistin Hannah, deren Reportage das erste Drittel des Romans ausmacht, stellt gleich einleitend klar, dass es hier um hoch Bedeutsames geht: Es lohnt sich zu rekonstruieren, was den verstörenden Ereignissen dieser Nacht vorausging, denn dahinter verbirgt sich eine moderne Parabel. Sie offenbart das zerfasernde Gewebe der britischen Gesellschaft, verschlissen durch den pausenlosen Abrieb des Spätkapitalismus. Quelle: Natasha Brown – Von allgemeiner Gültigkeit Was ist passiert? Im Landhaus eines Investmentbankers wurde auf einer Party ein Zwölf-Kilo-Goldbarren des Hausherrn als Schlagwaffe eingesetzt. Täter war der wohlstandsverwahrloste Sohn einer berühmten Kolumnistin, das Opfer gehörte zu einer Gruppe von Weltverbesserungsaktivisten. An sozialen Frontlinien Die Journalistin Hannah erkennt in dem Vorfall heißen Stoff für eine Reportage mit soziologischem Tiefgang. Kein Zweifel, Natasha Brown führt uns direkt an die inneren Frontlinien unserer westlichen Gesellschaften. Antikapitalistische Aktivisten und Banker rücken genauso ins Bild wie die bedrängte bürgerliche Mitte oder die Arbeiterklasse. Begriffe wie Diversität, Klassismus, Rassismus oder kulturelles Kapital schwirren durch die Debattenräume, die von der Autorin effektvoll in Szene gesetzt werden. So spiegelt sie in den fünf Abschnitten ihres Buches jeweils Textgenres und Situationen, die zum sozialen Standardrepertoire gehören. Auf Hannahs Reportage folgt ein Abendessen als Gesellschaftstheater, bei dem unter der Oberfläche des Small Talk hart um Anerkennung und Distinktion gerungen wird. Und am Ende des Romans bildet ein Literaturfestival mit Podiumsdiskussion den passenden Handlungsrahmen für vergiftete Höflichkeiten und rhetorische Statuskonkurrenzen. Schluss mit Woke Eine besonders provokante Figur gibt die Kolumnistin Miriam Leonard ab, die mit ihrem Bestseller „Schluss mit Woke" gegen Identitätspolitik und politische Korrektheit zu Felde zieht. Unverblümt polemisiert sie gegen die verbreiteten Forderungen nach Diversität. Wir müssen darauf bestehen, dass die neue Arbeitnehmerschaft in ihrer Zusammensetzung das gesamte Vereinigte Königreich widerspiegelt, nicht bloß das ›multikulturelle‹ London. Quelle: Natasha Brown – Von allgemeiner Gültigkeit Es überrascht, wie viel Raum Natasha Brown als schwarze Autorin mit Rassismuserfahrungen solchen Tiraden kritiklos einräumt. Blanke Satire ist das nicht. Dafür verkörpert diese Anti-Woke-Kolumnistin eine zu lebendige, durch ihre selbstbewusste Präsenz privilegierte Figur. Das heißt, es bleiben Fragen offen bei diesem von grellen Effekten durchsetzten Gesellschaftsbild. Andererseits ist die Handlung manchmal so vorhersehbar wie der aktuelle Zeitgeist, den sie abbildet. Doch trotz alledem bietet Natasha Browns Roman „Von allgemeiner Gültigkeit" eine Lektüre, die mit zeitkritischem Witz amüsiert und mit zielsicheren Provokationen nicht spart.…
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